Lebensmittel

Der Weg in die Saisonarbeit beginnt schon in der Schule

Eine rumänische Saisonarbeiter*in reist mit ihren beiden Kindern quer durch Europa, von Job zu Job. Begleitet wird sie von Existenzängsten und Ausbeutung. Einen Ausweg sieht sie nicht, denn sie kann weder lesen noch schreiben.

Eine Reportage von Elena Stancu, Teleleu.eu

Foto: Cosmin Bumbut/ Teleleu.eu.

Die neue Reportage der rumänischen Investigativ-Journalisten von Teleleu.eu erzählt von einer Mutter, die mit ihren beiden Kindern als Wanderarbeiterin durch Europa zieht. Ihre Geschichte handelt nicht nur von Ausbeutung, sondern auch von Armut und dem Mangel an Bildung, als ein wesentlicher Treiber für die Lebensumstände der Familie. Die Geschichte beginnt mit dem Rauswurf von Daniela und ihren Kindern von einem deutschen Gemüsebauern bei Nürnberg, nachdem dieser ihren Sohn gegen einen Container geworfen hatte. Die nachfolgenden Auszüge aus der Studie beschreiben Ereignisse aus Danielas Sicht.

„Wenn ich nicht gegangen wäre, hätte ich meine Kinder nicht großziehen können.“

Daniela Dumitru und ihre beiden Kinder stammen aus einem Dorf namens Bichiș, 15 km entfernt von Luduș, einer Stadt im Kreis Mureș, im Zentrum Siebenbürgens. Obwohl sie noch verheiratet ist (ihr Mann ist in Spanien), hat sie die Kinder größtenteils allein aufgezogen. „Sie war sowohl unsere Mutter als auch unser Vater“, sagt ihre Tochter Marina. In den letzten 12 Jahren hat Daniela Dumitru in der Landwirtschaft in Spanien, Frankreich, Belgien, Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland gearbeitet. Während sie weg war, wurden die Kinder von der Tante und ihrem Großvater aufgezogen. „Wenn ich nicht gegangen wäre, hätte ich meine Kinder nicht großziehen können“, sagt Daniela. „Vielleicht hätte ich es nicht mehr ausgehalten und wer weiß, was dann passiert wäre. Eine Mutter, die für zwei Kinder und auch für sich selbst sorgt … das war nicht einfach.“
Daniela kann weder lesen noch schreiben, ebenso wenig wie ihr Sohn Ion, der acht Klassen absolviert hat. „Sie haben ihn einfach so von einer Klasse in die nächste geschickt, nur um es hinter sich zu haben“, sagt Marina. Sie hat ebenfalls acht Klassen absolviert und ist die Einzige in der Familie, die lesen und schreiben kann.

Wir (Reporter von Teleleu.eu, Anmerk. D. Red.)haben viele rumänische Analphabet*innen auf den Feldern im Knoblauchsland getroffen. Ein paar trafen wir sogar im Süden Spaniens, wo sie auf den Erdbeerfeldern arbeiteten. Eine deutsche Landwirtin erzählte uns, dass eine ihrer rumänischen Angestellten nicht zählen konnte und nicht in der Lage war, zu überprüfen, ob sie am Zahltag den richtigen Geldbetrag erhielt. (…)

In Rumänien hütete Daniela Kühe und hatte noch nie einen Arbeitsvertrag. In Rumänien bedeutet das „tageweise“ Hüten der Kühe Schwarzarbeit für die Leute im Dorf, ohne Krankenversicherung und ohne jeglichen Schutz. Daniela hat das ständige Hin und Her der Migration satt und würde sich gerne dauerhaft in einem Land niederlassen, aber sie findet keine stabile Arbeit und kein Zuhause. Letztes Jahr pflückten Daniela und ihre Kinder Äpfel in Belgien, bis sie am 14. Dezember wieder nach Rumänien zurückkehrten. Im Frühjahr, wenn normalerweise überall auf dem Kontinent die Landarbeit beginnt, konnten sie wegen der Pandemie nicht ausreisen. Erst am 16. Mai gelang es ihnen, Rumänien zu verlassen und in die Niederlande zu gehen, wo sie in den Blumengewächshäusern in der Nähe von Amsterdam bis Ende August arbeiteten, bis sie zum Gemüsebau S. in Deutschland (nahe Nürnberg, Anm. d. Red.)gingen. Dieses Jahr wollen sie nicht nach Rumänien zurückkehren, aus Angst, dort während der Pandemie ohne Einkommensquelle festzusitzen.

Daniela erzählt uns, dass ihr Ärger mit S. begann, als sie eine Zahnentzündung hatte und er sich weigerte, ihr zu helfen, zum Arzt zu gehen, obwohl sie einen Arbeitsvertrag und eine Krankenversicherung hatte. Auf anderen Farmen (auch auf der, die wir besuchten) helfen die Deutschen ihren Angestellten normalerweise bei Arztbesuchen, wenn es nötig ist. Daniela erinnert sich, dass S. sie daran hinderte, zu gehen (am Fließband gibt es immer Aufträge zu bearbeiten) und verärgert war, dass die Frau wegen der Schmerzen einen Arbeitstag ausfallen ließ.

Integro Mittelfranken e.V., ein von einer Gruppe von Rumän*innen in Nürnberg gegründeter Verein, half Daniela: Marius Hanganu besorgte ihr einen Termin bei einem rumänischen Zahnarzt und ein anderer rumänischer Freiwilliger fuhr sie dorthin. Weil sie den Hof drei Stunden früher verließ, beschwerte sich S., dass sie schlecht in ihrem Job ist und zu langsam arbeitet.

Die osteuropäischen Saisonarbeiter*innen sind die Leidtragenden der Preispolitik der Supermärkte

Im Mai schrieb eine lokale bayerische Zeitung über den Familienbetrieb S., der zu diesem Zeitpunkt 24 rumänische Mitarbeiter*innen hatte, von denen 10 gerade mit Sondergenehmigungen aus Rumänien gekommen waren (das war während des Lockdowns). Der Betrieb baut auf 50 Hektar Zucchini, Sellerie, Kartoffeln, Möhren, Tomaten und viele andere Gemüsesorten an (bis zu 25 verschiedene Sorten). In dem Artikel beklagte sich S. über einen Mangel an ausreichenden Arbeitskräften aufgrund von Reisebeschränkungen und er sagte, dass die Deutschen nicht bereit seien, unter solch harten Bedingungen zu arbeiten – auf den Feldern im Regen oder in den Gewächshäusern in der Hitze – für so niedrige Löhne: 9,35 € brutto pro Stunde.
S. sagte der bayerischen Zeitung, dass er Maßnahmen ergriffen habe, um sicherzustellen, dass die Saisonarbeiter die Hygienevorschriften einhalten und dass die Unterkünfte nicht überfüllt sind, obwohl wir fünf Monate später bei unserem Besuch auf dem Hof eine ganz andere Situation sahen. Er beklagte auch, dass sich die Supermärkte in einem Wettlauf um den niedrigsten Preis befinden, der die Landwirte zwingt, ihre Waren so billig wie möglich zu produzieren. Was S. nicht erwähnte, ist, dass die Leidtragenden vor allem osteuropäische Saisonarbeiter sind: Um die Produktionskosten zu senken, müssen die deutschen Bauern niedrige Löhne zahlen.

Die Traumata der Armut sitzen tief

(…) Viele der Rumän*innen, die wir auf den Bauernhöfen in Nürnberg getroffen haben, tragen die Traumata der Armut mit sich, die Angst vor den Chefs und den festen Willen, ihren Arbeitsplatz um jeden Preis zu behalten. Das Wohlergehen ihrer Familien in Rumänien hängt von dem Geld ab, das sie in Deutschland verdienen. Auf den Feldern des Knoblauchslandes stießen wir auf viel Verbitterung und mangelndes Einfühlungsvermögen: Es gab rumänische Teamleiter*innen, die versuchten, sich bei ihren eigenen Chefs beliebt zu machen, indem sie unhöflich zu anderen Rumän*innen waren, obwohl sie niemand darum gebeten hatte; Rumän*innen, die sich in Deutschland niederließen, die Sprache beherrschten und von anderen Rumän*innen Geld dafür verlangten, dass sie ihnen bei der Erledigung des Papierkrams für die Sozialhilfe ihrer Kinder halfen (ein profitables und illegales Geschäft); Rumän*innen, die andere Rumän*innen für Jobs hierher brachten und von ihnen Geld für die Dienstleistung verlangten.

(…)Familie Dumitru hatte nicht einmal ihre Arbeitsverträge. Nachdem sie ihre Unterschrift bekommen hatten, behielt der Arbeitgeber die Verträge. Die Familie erhielt die Verträge erst, als das Unterstützungszentrum von Faire Mobilität ihren Fall übernahm und Kontakt zu den Leuten auf dem Hof aufnahm. Faire Mobilität hat der Familie einen Anwalt zur Seite gestellt, der derzeit die Verträge prüft und ihnen helfen wird, den Gemüsebau S. zu verklagen. „Familie Dumitru hat das Glück, einen Anwalt zu haben, der Rumänisch spricht“, sagt Marius Hanganu. „Sie werden auch Prozesskostenhilfe vom deutschen Staat beantragen, denn im Moment können sie sich die Prozesskosten nicht leisten. Selbst wenn die drei zurück nach Rumänien gehen, kann der Anwalt sie weiter vertreten. In den meisten Fällen, in denen ein Anwalt sie vor dem Arbeitsgericht vertritt, ist die physische Anwesenheit des Klägers nicht notwendig.“

Daniela und ihr Sohn sind Analphabeten. Deshalb wissen sie nicht, was in ihren Verträgen steht.

Daniela weiß nicht, ob sie fair bezahlt wurden oder ob sich ihr Chef an die Bedingungen im Vertrag gehalten hat. Und sie kann es auch gar nicht wissen, denn die Dokumente, die sie unterschrieben hat, waren auf Deutsch, und Daniela und (ihr Sohn, Anm. d. Red.)Ion können nicht einmal Rumänisch lesen. Was sie aber weiß, ist, dass der Arbeitgeber sich nicht so hätte verhalten dürfen, wie er es tat: „Er hat nicht ‚Guten Morgen‘ gesagt, er hat nichts in der Art gesagt, er hat immer auf den Leuten herumgehackt, ‚Geh und arbeite an diesem, geh und arbeite an jenem‘, er war schrecklich. Die ganze Atmosphäre war furchtbar. Man hat nicht mit Freude gearbeitet, man hat nur gearbeitet, weil man es musste.“

Daniela war schon einmal in so einer Situation. Vor ein paar Jahren, als sie in Spanien Mandarinen pflückte, rutschte sie aus und brach sich einen Finger. Sie arbeitete bis neun Uhr abends auf dem Feld weiter, obwohl ihre ganze Hand schwarz geworden war. Erst als die Schmerzen unerträglich wurden, ging sie zum Arzt. Sie fand heraus, dass sie keine Krankenversicherung hatte, da der Bauer sie angelogen hatte, also verständigte der Arzt die Polizei. Ein spanischer Verein bezahlte ihr die Unterkunft und half ihr, eine Klage gegen den Chef einzureichen, der aggressiv geworden war. Der Mann wurde mit Hilfe des Vereins verklagt, aber Daniela weiß nicht, wie der Prozess verlaufen ist, weil sie seitdem nicht mehr in Spanien war.

Die Arbeiter*innen sind extrem abhängig von der beschäftigenden Firma

Das Unterstützungszentrum JADWIGA in Nürnberg half Daniela, Marina und Ion aus ihrer Krise. Ein Sozialarbeiter brachte sie in eine Herberge und bezahlte einige Nächte, während Ion für Untersuchungen in ein Krankenhaus gebracht wurde, wo er die Nacht verbrachte.
Mit Hilfe von Marius Hanganu bekamen die drei Rumän*innen letzte Woche einen Job in einer Nürnberger Spielzeugfabrik und mieteten eine Zwei-Zimmer-Wohnung in der Stadt, in der Nähe der Abholstelle des Busses, der sie zur Arbeit bringt. Es ist das erste Mal, dass sie woanders wohnen als in einer vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Unterkunft.

Marius Hanganu: „Die Arbeiter sind extrem abhängig von der Firma, die sie beschäftigt, da sie ihnen eine Unterkunft zur Verfügung stellt. Viele Arbeitsverträge in der Landwirtschaft verwenden eine Vorlage des Deutschen Bauernverbands. Diese Vorlage sieht im Falle einer Kündigung lediglich eine eintägige Kündigungsfrist vor. Das ist ungeheuerlich! Im Grunde genommen bedeutet das, dass sie sie von einem Tag auf den anderen entlassen können. Es hat schon viele Fälle gegeben, in denen Leute auf Bahnhöfen oder in Parks geschlafen haben, weil sie so kurzfristig keinen Transport zurück nach Rumänien finden konnten. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sein muss, in einem Land auf die Straße geworfen zu werden, in welchem man die Sprache nicht spricht und keine Ahnung hat, wohin man gehen soll. Ich denke, viele [Rumänen] wurden illegal entlassen, sie wurden zu wenig bezahlt oder haben sich nicht an die Vertragsbedingungen gehalten. Häufig werden sie nur mündlich entlassen, was in Deutschland verboten ist: Egal, wo man arbeitet, kündigen oder entlassen werden kann man nur schriftlich.“
Marius Hanganu sagt, dass das Unterstützungszentrum Faire Mobilität, in dem er arbeitet, es geschafft hat, die rumänischen Arbeiter*innen vor allem während des Lockdowns zu erreichen, aber er glaubt, dass mehr Bemühungen von rumänischen Institutionen dringend notwendig sind und dass die Presse mehr Druck auf die Institutionen ausüben muss. Er sagt, man sollte mit einer Reform des rumänischen Bildungssystems beginnen.

Mangelnde Bildung als strukturelles Problem

„Viele rumänische Arbeiter haben acht Klassen absolviert, sind aber funktionale Analphabeten“, sagt Marius Hanganu. „Wir waren auf den Feldern oder in den Kasernen und haben Arbeiter getroffen, die keine Ahnung hatten, was ‚Mindestlohn‘ bedeutet; sie haben einen Vertrag unterschrieben, von dem sie keine Kopie erhalten haben, und sie sind mit dem deutschen Recht nicht vertraut. Sie werden Opfer von Arbeitsausbeutung, gerade weil sie kein Deutsch sprechen. Wir decken häufig Situationen auf, in denen Menschen leere Papiere oder falsche Quittungen unterschreiben. Vor Gericht ist oft nichts mehr zu machen, weil die Leute Papiere unterschreiben, die besagen, dass sie einen bestimmten Geldbetrag erhalten haben, obwohl es in Wirklichkeit nicht der richtige Betrag war. Außerdem melden sich viele erst bei uns, wenn sie wieder in Rumänien sind, was oft viel zu spät ist, um noch etwas zu tun.“

(…)

Die ganze Studie zum Nachlesen findet ihr hier.

Dieses Material wurde von der in Rumänien ansässigen Mai Bine Association im Rahmen der Kampagne „OurFood.OurFuture“ erstellt, die von Europäischen Union ko-finanziert wird.

„OurFood.OurFuture“ besteht aus einem globalen Konsortium mit 16 Organisationen aus Europa, Brasilien und Südafrika und wird von der Christlichen Initiative Romero koordiniert. Dieser Bericht wurde vom Teleleu-Team dokumentiert und gibt nicht unbedingt die offizielle Position der Europäischen Union wieder.

Ansprechpartner_Dominik_Gross

Ich bin für Ihre Fragen da:

Dominik Groß
Referent für Menschenrechte und Klimaschutz in Agrarlieferketten
grossnoSpam@ci-romero.de
Telefon: 0251 - 674413-43