Lebensmittel

„Erst wenn der Schnee fällt, kehre ich heim zu meinen Kindern“

Ein rumänisches Ehepaar erzählt aus seinem Leben als Saisonarbeiter*innen in Europa. 10 Monate im Jahr verbringen sie auf Feldern in der Nähe von Nürnberg bis sie zu Weihnachten zu ihren Kindern in Rumänien zurückkehren.

Eine Reportage.

Foto: Comsin Bumbut/TELELEU

Die Reportage zeigt beispielhaft, mit welchen Herausforderungen migrantische Arbeiter*innen tagtäglich konfrontiert werden und zeigt auf, welchen strukturellen Problemen sie gegenüberstehen. Im Rahmen des Projekts „Our Food. Our Future“ hat ein Forschungsteam für unsere rumänischen Partnerorganisation Mai Bine Association das rumänische Ehepaar Alexandru und Maria interviewed. Der hier dargestellte Ausschnitt entstammt dem Bericht von Elena Stancu/Teleleu.

„(….) Tausende Rumän*innen arbeiten auf den Feldern rund um Nürnberg in Bayern, vom Anfang des Jahres bis November oder Dezember, wenn das Wetter zu kalt wird. Diese Menschen werden Saisonarbeiter*innen genannt, obwohl viele von ihnen zehn Monate im Jahr in Deutschland verbringen. Manche pflücken Erdbeeren oder stechen Spargel in einem Zeitraum von zwei bis drei Monaten, während andere in Gewächshäusern arbeiten und deswegen nur über Weihnachten nach Hause zu ihren Familien zurückkehren können.

Die meisten von ihnen verdienen 330 bis 350 € in der Woche. Im Sommer machen sie Überstunden und können dadurch sogar 400 bis 500 € pro Woche verdienen. Sie leben in Unterkünften, die ihnen von deutschen Landwirt*innen zu Verfügung gestellt werden, manchmal zusammengedrängt in kalten Räumen, manchmal unter besseren Bedingungen als zu Hause, wo ihnen fließendes Wasser und Abwasseranlagen fehlen.

Viele sind in den vergangenen sechs Jahren nach Deutschland gekommen, seit die Arbeitsmarktbeschränkungen, denen Rumänien und Bulgarien nach ihrem EU-Beitritt unterworfen waren, aufgehoben wurden. Sie haben polnische Arbeitskräfte ersetzt, die früher in der Landwirtschaft arbeiteten, inzwischen aber bessere Jobs finden konnten.

Die Rumän*innen sind hier, um Geld zu verdienen: Sie wollen ihr Dach reparieren, eine Heizung im Haus installieren oder ein „modernes Badezimmer“ mit einer Dusche und Toilette innerhalb des Hauses bauen. Wenn man sie fragt, sagen viele: „Das war’s, nächstes Jahr komme ich sicher nicht zurück“, aber im Endeffekt kommen sie wieder zurück ins Knoblauchsland in Bayern. Der Grund ist simpel: Zu Hause können sie ihre Familien nicht mit einem 1500 lei Gehalt versorgen (umgerechnet ca. 320€), denn so viel haben die meisten verdient, bevor sie in Deutschland arbeiteten.

Mit „Zuhause“ ist Rumänien gemeint, nicht die deutschen Bauernhöfe, wo sie in herbergsähnlichen Zimmern leben, die sie mit einem Teil ihres Lohns bezahlen und in die sie ihre Familien nicht mitbringen können. Sie haben Saisonarbeitsverträge, können also in Deutschland weder einen Kredit aufnehmen noch eine Wohnung anmieten. Die meisten von ihnen schicken ihr Geld nach Rumänien, zu ihren Kindern, „damit sie alles haben was sie brauchen“.

Integro Mittelfranken e.V., ein Verein, der von einer rumänischen Gruppe in Nürnberg gegründet wurde, schätzt, dass jährlich ungefähr 180.000 rumänische Saisonarbeiter*innen in der Landwirtschaft Deutschlands aktiv sind. Sie sind jedoch nicht in offiziellen Statistiken enthalten, weil sie nicht gemeldet sind.

„Wir hatten ein hartes Leben in Rumänien.“

Alexandru Popescu lebte in Caransebes, im Westen Rumäniens, bis er 19 war. Nachdem sein Stiefvater gestorben war, verloren er und seine Mutter ihr Zuhause. Sie mussten zurück nach Borlova in das alte Haus der Eltern seiner Mutter ziehen, in dem sie zusammen mit einem Onkel wohnten. Alexandru absolvierte 11 Jahre lang eine Berufsausbildung in Caransebeș und spezialisierte sich als Mechaniker, Klempner und Maler.

Er verließ das Land zum ersten Mal mit 19 und verbrachte 5 Jahre in Wien. „Ich habe nicht gearbeitet. Ich war einfach ein Nichtsnutz, hab dies und das gemacht, das Geschäft war damals anders, es gab dieses Ding mit Magazinen und Zeitungen… dummes Zeug“, erinnert er sich.

Er kam zurück nach Rumänien, hatte aber keine Unterkunft und begann daher ein Zimmer und eine Küche in Borlova im Garten seines Onkels zu bauen, wo er schließlich mit seiner Mutter einzog. Das Geld war knapp und somit fuhr er nach Tschechien, um Spargel zu stechen. Als er zurückkam, baute er ein Badezimmer. „Ich war der glücklichste Mann auf Erden, weil ich endlich im Haus ins Bad gehen konnte, anstatt rausgehen zu müssen,“ sagt er.

Danach arbeitete er für mehrere Jahre in einer Holzverarbeitungsfabrik und bediente die Kreissäge. Bei einem Arbeitsunfall (…) verlor er seinen kleinen Finger. (…)

„Wenn ich eine bessere Ausbildung gehabt hätte, wäre das Leben vielleicht einfacher für mich gewesen.“

(…) Maria stammt aus einer großen Familie mit 6 weiteren Geschwistern aus Borlova. Ihre Eltern konnten sich die Fahrten zur weiterführenden Schule in Caransebes nicht leisten, also schloss sie die Schule nach nur acht Jahren ab. Sie nahm Tagesarbeiten wie Pflaumen- oder Kartoffelernten in ihrem Dorf für 15-20 lei (ca. 3-4€) pro Tag an. Mit 16 Jahren bekam sie eine Stelle als Putzkraft bei einer Firma in Caransebes.

Sie lernte ihren Mann im selben Jahr kennen und brachte ihren Sohn, Adrian, mit 17 zur Welt. „Wenn ich eine bessere Ausbildung gehabt hätte, wäre das Leben vielleicht einfacher für mich gewesen“, gibt sie zu. „Aber auf dem Land heiraten Mädchen, wenn sie das erste Mal verliebt sind. Meine Freundinnen haben mir gesagt: ‘Du hast geheiratet, du bist in deiner einsamen Welt mit deiner Familie, alles, an das du denkst, sind deine Kinder, dein Haus, nichts anderes.‘ Und das ist nicht gut. Es ist so, wenn die Jahre vergehen, verändern sich auch Gedanken und Gefühle. Aber ich bereue nichts, weil ich zwei wunderbare kleine Kinder habe, die ich sehr liebe.“


 

Das Forschungsteam hat Maria und Alexandru besucht auf einem Hof in Nürnberg, zu dem es jeden Sommer viele Saisonarbeiter*innen aus ihrem Dorf zur Ernte zieht.

„(…) Der Bauernhof ist 250 Jahre alt und ein Familienunternehmen, das vom Vater an den Sohn weitergegeben wird. Das erste Gewächshaus wurde 1965 gebaut. Heute betreiben die Höfler Brüder Thomas, Peter und Simon den Bauernhof. Sie bauen Tomaten, Gurken, Paprika, Rucola, Salat, Zwiebeln, Rettich, Sellerie, Karotten, Rüben, Pastinaken, Broccoli, Kohlrabi, Kohl und anderes Gemüse an, das sie an große Supermarktketten in Deutschland verkaufen.

Es ist einer der Höfe, auf denen Rumän*innen fair behandelt werden und das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb wir hier mit den Gewächshausarbeiter*innen sprechen durften. Man kann eindeutig Desinfektionsgeräte in den Gewächshäusern, im Lager, auf den Toiletten und im Hof sehen. Wöchentlich wird die Temperatur der Arbeiter*innen gemessen und sie werden gebeten, Masken zu tragen (auch wenn die meisten ihre Masken abnehmen oder unter ihr Kinn ziehen, wenn die deutschen Besitzer nicht da sind).
Im Sommer wurden zwei Covid-19-Fälle am Bauernhof bestätigt, aber zum Glück wurden die Tests früh genug gemacht, die zwei Personen wurden unter Quarantäne gestellt und niemand sonst infizierte sich. Die deutschen Besitzer baten uns, einen Test zu machen und ließen uns erst nachdem wir negativ getestet waren auf den Bauernhof.

Ein Dorf zieht aus, um zu arbeiten

(…) Die meisten Arbeiter*innen sind aus Borlova, einem 1400-Einwohner*innen Dorf aus dem Kreis Caras-Severin. (…) Bis vor 15-16 Jahren war das Dorf sehr arm, dann fingen die Borlovaner an, zum Arbeiten nach Deutschland zu gehen. Genau wie Maria und Alexandru verdienten die Bewohner*innen gewöhnlich Hungerlöhne in einer Kabelfabrik oder einem Holzverarbeitungswerk. Viele sammelten auch Pilze, Heidelbeeren oder Himbeeren im Wald, um diese für zusätzliches Einkommen zu verkaufen.

Alexandru erzählt uns, dass es für das Dorf seit einigen Jahren aufwärts geht. Die Menschen haben große Häuser mit modernen Badezimmern und fließendem Wasser gebaut und man sieht Autos, die vor den Häusern geparkt werden. Seit fünf Jahren arbeitet Alexandru bereits in Deutschland und hat in dieser Zeit 30 Saisonarbeiter*innen aus seinem Dorf angeworben. Mit manchen arbeitet er noch immer auf demselben Bauernhof zusammen, andere haben Arbeit bei einem Hof in der Umgebung gefunden.(…).

Rumän*innen sind die sechtsgrößte Migrationsgemeinschaft in Deutschland

Am 31. Dezember 2019 waren laut dem Statistischen Bundesamt Deutschlands insgesamt 813.000 Rumän*innen in Deutschland gemeldet (415.000 Frauen und 398.000 Männer). Diese Zahl beinhaltet nicht die Kinder, die in Deutschland geboren wurden, Rumän*innen, die die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten oder jene mit rumänischen Wurzeln. Die Zahl beinhaltet nur Rumän*innen „mit Migrationshintergrund“, also jene, die aus Rumänien, Spanien, dem Vereinigten Königreich etc. kommen.

Rumän*innen sind die sechstgrößte Migrationsgemeinschaft in Deutschland, nach Pol*innen (1.638.000), Türk*innen (1.339.000), Staatsbürger*innen aus dem ehemaligen Jugoslawien (1.294.000), Russ*innen (1.076.000) und Kasach*innen (926.000). In Deutschland gibt es mehr rumänische als syrische Migrant*innen (721.000).

Insgesamt leben 1.018.000 Bürger*innen rumänischer Herkunft in Deutschland. Diese Zahl beinhaltet Kinder, die in Deutschland geboren wurden, Rumän*innen, die die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben und jene, deren Eltern rumänischer Herkunft sind (damit ist die erste Generation gemeint, die in Deutschland geboren wurde, ab der zweiten Generation werden die Menschen als Deutsche betrachtet).

Zwischen 2012 und 2019 nahm die Anzahl der in Deutschland lebenden Rumän*innen jährlich im Durchschnitt um 77.600 zu, wobei es 2015 mit fast 100.000 die größte Zuwanderung gab.

Letztes Jahr (2019) haben 5.830 Rumän*innen die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. 2018 waren es 4.325; 2017 4.238; 2016 3.828; 2015 3.001 und 2014 2.566.

In Nürnberg leben offiziell 14.905 Rumän*innen, in der umliegenden Region Mittelfranken 36.270 Rumän*innen.

(…)

„Wir haben hier alles was wir wollen, außer unsere Kinder.“

Maria und Alexandru verdienen insgesamt etwa 3000€ im Monat, dazu kommen monatlich 408€ an Kindergeld, das sie von Deutschland erhalten, da sie dort arbeiten und Steuern zahlen. Jeden Monat senden sie Geld nachhause nach Rumänien um die Bedürfnisse der Kinder, deren Versorgung und die Medizin der Großmutter abzudecken.

„Als es uns endlich erlaubt war [nach Deutschland] zu kommen sind wir wie Ameisen ausgeschwärmt, weil wir wussten, dass es hier genug Geld gibt“, erinnert sich Alexandru. „Wir sind sehr hart arbeitende Menschen und die Deutschen hätten es nicht leicht ohne uns hier. Niemand hätte diese Arbeiten machen können. Die Deutschen sind nicht so zäh wie wir und arbeiten anders. Sie arbeiten nicht mehr als acht Stunden. Wir hingegen schuften bis zu zehn Stunden, manchmal sogar 11 oder 12.“

Mittlerweile hat Alexandru schon an vielen verschiedenen Orten im Ausland gearbeitet, am besten fühlt er sich in Deutschland. Als Maria Probleme mit ihren Zähnen hatte, haben die Mitarbeiter*innen vom Bauernhof für sie einen Termin beim Zahnarzt ausgemacht. Die gesamten Kosten wurden von ihrer Krankenversicherung übernommen.

Diesen Sommer hat der deutsche Zoll Überprüfungen am Höfler Gemüsehof vorgenommen. Sie haben sich die Verträge der Arbeiter*innen und die Verfassung der Unterkünfte angesehen. Das Zoll-Team hat Angestellte befragt, Maria wurde gefragt, ob sie sich sicher am Hof fühlt und ob ihr ihre Überstunden ausbezahlt werden.

Der Unterschied zu Rumänien ist markant. In Rumänien hat Maria ungemeldet gearbeitet und Kartoffeln geerntet, Alexandru hat einen Finger verloren, weil er in einer Fabrik gearbeitet hat, die die Sicherheitsmaßnahmen nicht eingehalten hatte. „Wir haben hier alles war wir wollen, außer unsere Kinder“, sagt er. „Wenn es für uns möglich gewesen wäre, ein mehr oder weniger angenehmes Leben in Rumänien zu führen, wären wir nicht nach Deutschland gekommen.“

Alexandru hat darüber nachgedacht, die Kinder und seine Mutter nach Nürnberg zu holen, vor allem dieses Jahr, als er sich Sorgen machte wegen der Pandemie. Es ist jedoch sehr kompliziert für Saisonarbeiter*innen eine Wohnung zu mieten. Die deutschen Landwirt*innen behalten einen Teil der Gehälter als Bezahlung für die Unterkunft. Wenn sie den Hof verlassen würden, müssten die Arbeiter*innen mehr für Miete bezahlen. Dazu kommt, dass Vermieter*innen nicht an Saisonarbeiter*innen vermieten.

In ein paar Tagen fährt Maria mit ein paar Leuten aus ihrem Dorf wieder zurück nach Rumänien. Alexandru arbeitet bis zum 15. Dezember weiter. Die 20 Rumän*innen, die noch bleiben, haben viel zu tun: Sie müssen alle Gewächshäuser desinfizieren und neue Plastikplanen auf den Reihen, wo die Pflanzen wachsen werden, auflegen. Sie stehen um 4 Uhr morgens auf und arbeiten bis 17:00 Uhr.

Die Kinder wissen, dass ihre Mutter bald zurückkommt. Dana wünscht sich eine Puppe und Adrian ein neues PlayStation-Spiel. Maria wird diese Geschenke nächste Woche besorgen. Sie wird außerdem Süßigkeiten mitbringen, nicht zu viele, aber genug, um eine gute Auswahl zu haben. Sie kann ihnen keine Kleidung kaufen, weil sie wieder gewachsen sind, seitdem sie sich zuletzt gesehen haben und sie nicht weiß, welche Größe sie jetzt tragen.

Dana kann es nicht mehr erwarten. Jeden Morgen beim Aufstehen fragt sie ihre Großmutter: „Wie viele Tage sind es noch bis Mama zurückkommt?“

*Die Namen wurden von uns geändert.

Dieses Material wurde von der in Rumänien ansässigen Mai Bine Association im Rahmen der Kampagne „OurFood.OurFuture“ erstellt, die von Europäischen Union ko-finanziert wird.

„OurFood.OurFuture“ besteht aus einem globalen Konsortium mit 16 Organisationen aus Europa, Brasilien und Südafrika und wird von der Christlichen Initiative Romero koordiniert. Dieser Bericht wurde vom Teleleu-Team dokumentiert und gibt nicht unbedingt die offizielle Position der Europäischen Union wieder.

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Dominik Groß
Referent für Menschenrechte und Klimaschutz in Agrarlieferketten
grossnoSpam@ci-romero.de
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