Menschenrechte

Poet und Revolutionär Ernesto Cardenal

Der nicaraguanische Dichter verstarb am 01. März in seiner Heimat. Der Journalist Ralf Leonhard erinnert an sein Lebenswerk.

06. März 2020 / Nachruf von Ralf Leonhard

Ob die Welt Ernesto Cardenal als Dichter oder Revolutionär in Erinnerung behalten wird, muss die Geschichte entscheiden. Beide Identitäten sind untrennbar verbunden in dem kleinen weißhaarigen Mann, der am 1. März mir 95 Jahren in seiner Heimat Nicaragua starb.

Der zu seinen Lebzeiten sicherlich weltweit bekannteste Nicaraguaner wird außerhalb seines Landes mehr geschätzt, als in seiner Heimat, wo er im autoritär regierenden Präsidenten Daniel Ortega und dessen Frau Rosario Murillo verbissene Gegner hatte. Eine bittere Ironie der Geschichte, war es doch die Arbeit von Cardenal, die in den späten 1970er Jahren den von der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) angeführten Befreiungskampf gegen die Diktatur der Familie Somoza international bekannt machte. Seine Botschaft, dass Christentum und marxistisch inspirierte Revolution nicht im Widerspruch stehen, ist dafür verantwortlich, dass christliche Solidaritätskreise in Deutschland und den USA den Aufstand gegen die Tyrannei und später die sandinistische Revolution unterstützten.

Geboren im Januar 1925 in eine begüterte konservative Familie der Kolonialstadt Granada am Nicaraguasee hatte Cardenal erst spät die Berufung zum Priesteramt vernommen. Er hatte sich schon als Dichter einen Namen gemacht, als er nach einem Theologiestudium in Mexiko 1957 in das Trappistenkloster Gethsemmani in Kentucky eintrat, wo er vom dichtenden Mönch Thomas Merton als Novizenmeister begleitet wurde. Sein Studium setzte er im kolumbianischen Medellín fort. 1965 wurde er in Managua zum Priester geweiht.

„Bevor ich noch schreiben konnte, sprach ich Gedichte und lernte sie auswendig“, erinnerte sich Cardenal in einem Interview. Der revolutionäre Funke sprang erst bei einem Besuch auf Kuba auf ihn über, wo Fidel Castro damals noch streng antiklerikal regierte. Denn anders als später in Nicaragua hatte die katholische Kirche stramm hinter der Diktatur gestanden.

Der Poet und Priester gründete mit dem kolumbianischen Schriftsteller William Agudelo auf dem idyllischen Solentiname-Archipel im Nicaraguasee eine urchristliche Gemeinde, mit der er die Bibel aus der Perspektive der sozialen Botschaft las. Die Bauernsöhne erkannten in den Pharisäern die ausbeuterischen Großgrundbesitzer und zynischen Vertreter der Diktatur. Das aus den Gesprächen mit den Inselbewohnern entstandene Kompendium wurde als Evangelium von Solentiname zu einem der Schlüsselwerke der Befreiungstheologie. Mehrere der Jünger Cardenals wollten es bei Worten nicht belassen und schlossen sich der Sandinistischen Befreiungsfront an. Bei einem militärisch aussichtslosen Überfall auf die Kaserne der Nationalgarde in der Stadt San Carlos am Ostufer des Nicaraguasees starben im Oktober 1977 zwar die meisten der Angreifer, doch gilt die Aktion als Auftakt zum Ende der Diktatur. Als Solentiname darauf von der Luftwaffe Somozas bombardiert wurde, musste Cardenal ins benachbarte Costa Rica fliehen, wo er wenig später Daniel Ortega traf, der durch eine Kommandoaktion mit Geiselnahme aus dem Kerker Somozas befreit worden war.

Cardenal, der damals schon eine gewisse Bekanntheit als Dichter genoss, wurde als Botschafter der Revolution um die Welt geschickt. Seine Gedichte an die Revolution sind keine hölzerne Propaganda, sondern Liebesgedichte an eine sozialistische Utopie, die sich auch in Nicaragua nicht verwirklichen sollte. Profan-sozialkritische Lyrik, wie ein Gebet für Marilyn Monroe lassen erkennen, dass der Poet nicht immer die Mönchskutte getragen hat. Es war nur konsequent, dass Cardenal nach dem Sieg der Revolution im Juli 1979 zum Kulturminister ernannt wurde. In dieser Funktion förderte er Dichterwerkstätten in den Dörfern, bei der Polizei und selbst in der Armee. Rosario Murillo, die die Vereinigung der Sandinistischen Kunstschaffenden leitete und einen elitären Kunstbegriff, kombiniert mit strenger ideologischer Kontrolle vertrat, musste zu seiner Gegnerin werden und setzte auch durch, dass das Kulturministerium 1984 aufgelöst wurde.

Der schroff antikommunistische Papst Johannes Paul II hatte ihn längst als Priester suspendiert und ließ sich auch nicht erweichen, als Ernesto Cardenal im März 1983 auf die Knie fiel und seinen Segen erbat. Der Papstbesuch in Nicaragua verschärfte einen Konflikt zwischen Revolution und konservativer Amtskirche, der schließlich zugunsten der katholischen Würdenträger ausgehen sollte. Cardenal zog sich nach seiner Absetzung nach Solentiname zurück, wo er dichtete und kunstvolle Holzschnitzereien schuf. Es entstand das Großwerk Cántico Cósmico, eine poetische Liebeserklärung an das Universum. “Ich bin wahrscheinlich der einzige Dichter, der Poesie über die Wissenschaft schreibt“, hat er in einem Interview gesagt.

Politisch trat er erst wieder an die Öffentlichkeit, als die Sandinisten 1990 abgewählt wurden und Daniel Ortega vier Jahre später eine Spaltung der FSLN provozierte. Mit den meisten Künstlern und Intellektuellen schlug sich Cardenal auf die Seite der vom Literaten Sergio Ramírez angeführten Dissidenten, die die Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS) gründeten.

Jahrelang tingelte Cardenal, begleitet von der Musikgruppe Sal alljährlich durch Deutschland und las aus seinen Werken, die allesamt ins Deutsche übersetzt wurden, die meisten von Lutz Kliche, den eine fast lebenslange Freundschaft mit dem Poeten verband. Zu Hause wurde Cardenal von rachsüchtigen Anhängern des seit 2007 wieder regierenden Daniel Ortega in einen Rechtsstreit um ein Grundstück verwickelt, der ihm eine Klage auf Entschädigung von 800.000 US-Dollar einbringen sollte. Seine Gegnerschaft zu Ortega geriet in Interviews fast zur Obsession. Verbittert und zunehmend grantig zog sich der weißhaarige Mann mit der schwarzen Baskenmütze immer mehr zurück und stellte altersbedingt auch die Europatourneen ein.

Nach dem Tod seines Bruders Fernando- Jesuitenpater und einst Bildungsminister – vor vier Jahren scheute er die Öffentlichkeit noch mehr. 2012 wurde der 92Jährige mit dem spanischen Reina-Sofía-Preis ausgezeichnet, dem höchsten, den es für spanische Lyrik gibt. Den 2018 von Uruguay verliehenen Mario-Benedetti-Preis widmete er Álvaro Conrado, dem 15jährigen Schüler, der im April jenes Jahres von Scharfschützen Ortegas getötet wurde, als er aufständische Studenten mit Wasser versorgen wollte. Auch dafür wird Ernesto Cardenal in Erinnerung bleiben. Vor einem Jahr hat Papst Franziskus übrigens die Sanktionen des Vatikans gegen den rebellischen Priester aufgehoben.

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