„Ein verzweifelter Versuch, aktuelle Lebensstile zu verlängern“

Prof. Eduardo Gudynas

Eduardo Guynas im Interview

Extraktivismus, also die Ausbeutung von Bodenschätzen und Rohstoffen für den Export, hat maßgeblich die industrielle Entwicklung des Globalen Nordens angetrieben und ist Teil eines „Entwicklungsmodells“, in dem der Globale Süden das Nachsehen hat. Eduardo Gudynas, einer der einflussreichsten Denker Lateinamerikas, spricht mit CIR-Referent Anderson Sandoval über die ökologischen und sozialen Folgen, welche die europäischen Maßnahmen zur Rohstoffversorgung für Südamerika mit sich bringen. Und über mögliche Alternativen.

Interview: Anderson Sandoval (CIR), Text und Übersetzung: Joana Eink (CIR) 

Prof. Eduardo Gudynas ist Direktor des Centro Latino Americano de Ecología Social in Uruguay.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hält an und beschäftigt nicht nur Europa. Er beeinflusst die Weltpolitik und den globalen Handel. Welche Auswirkungen hat der Krieg auf die Entwicklung und die Umwelt in Lateinamerika? 

Die Auswirkungen sind vielfältig. Neben Handelsauswirkungen wie der Verteuerung von Düngemitteln oder dem Anstieg von Kohleexporten aus Kolumbien, steht der Krieg auch für ein Infragestellen des Ideals einer liberalen Globalisierung nach westlichem Vorbild. Länder wie Russland, China, Iran und teilweise auch Indien, stellen die europäischen Ideale in Frage. Lateinamerika steht seit Jahrzehnten unter dem Einfluss Europas und der USA und befindet sich nun in einer Zerrissenheit, die nicht deutlich wahrgenommen wird. Gleichzeitig nimmt der Einfluss Chinas in Lateinamerika stetig zu, insbesondere in Bezug auf die wirtschaftliche Lage und die Zukunft natürlicher Ressourcen und Territorien. Es wachsen also einerseits die Kritik und der Überdruss an der Einflussnahme des Nordens, andererseits muss anerkannt werden, dass im Rahmen des politischen Modells Chinas, beispielsweise Fragen der Geschlechtervielfalt und die Wahrung der Menschenrechte, auf der Strecke bleiben.

Wenige Monate nach Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine hat sich die Umsetzung mancher öffentlichen Maßnahmen in Europa beschleunigt, wie z. B. das europäische Gesetz zur nachhaltigen Sicherung der Rohstoffversorgung der EU. Welche Veränderungen bringt dieses erneuerte Interesse an bestimmten kritischen Rohstoffen für Lateinamerika mit sich?

Der Plan der Europäischen Union bezieht sich auf verschiedene Sektoren. Für große Lebensmittelexporteure wie Brasilien, Argentinien, Uruguay oder Paraguay ist vor allem die gemeinsame Agrarpolitik und die Reform des Agrarsektors von Relevanz, ganz besonders die Farm-to-Fork-Politik. Für Länder, die sich auf den Bergbau spezialisiert haben, sind die Reformen im Rahmen der Energiewende von Bedeutung sowie die Frage nach der Reduktion fossiler Brennstoffe.
Am interessantesten erscheint mir jedoch, dass in der EU ständig von „Wandel“ oder „Transition“ gesprochen wird, besonders vom „Gerechten Wandel“. Aber was sind die angestrebten Ziele? Was sind Alternativen zum Status quo? Das wird nicht klar. Dass diese Debatte nicht zu Ende geführt wird, liegt meines Erachtens daran, dass die Mehrheit der europäischen Gesellschaft nicht bereit ist, bestimmte Lebensstile und Vorstellungen von Entwicklung aufzugeben.

Es stimmt, statt über eine tatsächliche Änderung des bestehenden Modells wird eher über die Dekarbonisierung des Kapitalismus gesprochen. Kürzlich war Chiles Präsident Boric in Berlin, um für seine neue Lithium-Strategie zu werben, mit der er nicht nur nachhaltiges Wachstum und Dekarbonisierung verspricht, sondern auch einen gewissen Schutz der Umwelt und die Überwindung der sozialen Konflikte, die der Extraktivismus verursacht hat. Was sagen Sie dazu?

Die ökologischen und territorialen Schäden, die der Lithiumabbau mit sich bringt, sind größtenteils irreparabel – ganz egal, ob er staatlich, privat oder gemischt vonstattengeht. Er ist niemals nachhaltig. Und die von Boric versprochene nationale Lithiumgesellschaft ist meines Wissens noch nicht formalisiert und hat ihre Tätigkeit noch nicht aufgenommen. Aus globaler Sicht ist es zudem unangemessen anzunehmen, dass eine massive Ausbeutung von Lithium eine substanzielle Veränderung im Energie- und Verkehrssektor ermöglichen wird. Warum? Weil die Lithiumreserven ebenso begrenzt sind wie beispielsweise die Kohlenwasserstoffreserven; sie reichen nicht aus, um alle Autos auf der Welt anzutreiben. Meiner Ansicht nach handelt es sich daher um einen verzweifelten Versuch, derzeitige Lebensstile und Verbrauchsmuster noch ein wenig zu verlängern. Was zwangsläufig zu weitaus mehr sozialen und ökologischen Auswirkungen und Verwüstungen in den Ländern des Südens führen wird.

Können Sie erläutern, was Sie meinen, wenn Sie vom Konzept der Entwicklung als einem ansteckenden Mythos schreiben?

Die zeitgenössische Vorstellung von Entwicklung geht davon aus, dass der Abbau einer natürlichen Ressource für den Export oder die Weiterverarbeitung im Land notwendig ist, um Wirtschaftswachstum zu erzeugen, das dann vor Ort zu mehr Arbeitsplätzen und höheren Einkommen führt, was wiederum eine bessere Lebensqualität mit sich bringt. Die Logik hinter dem Extraktivismus als Entwicklungsstrategie ist, einen finanziellen Ausgleich für die Schäden anzubieten: „Ich verschmutze dich, aber ich bezahle dich.“ Doch dieses Konzept hat eindeutig nicht funktioniert. Weil die Länder nach wie vor dem Rohstoffexport untergeordnet sind, der industrielle Sprung nie vollzogen wurde und sich die Umweltschäden häufen. Es geht uns nicht besser, sondern jedes Jahr schlechter, was den Verlust von Biodiversität, die Verschlechterung der Böden, die Verschmutzung usw. angeht, und wir haben weiterhin chronische Probleme mit Armut, Ausgrenzung, Gewalt und Marginalisierung. Zudem läuft dieser Entwicklungsmythos den Denk- und Empfindungsweisen der indigenen Gruppen Lateinamerikas zuwider. Die Trennung von Gesellschaft und Natur widerspricht indigenen Vorstellungen komplett.

Eine weitere Besonderheit Südamerikas, die in Europa weitestgehend unbeachtet bleibt, ist, dass innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne von etwa 25 Jahren, eine Vielfalt an Entwicklungskonzepten ausprobiert wurde. Von neoliberalen Entwicklungen in Chile, Peru und Kolumbien bis hin zu progressiven Entwicklungen, die auch als Sozialismus des 21. Jahrhunderts bezeichnet wurden, wie etwa in Venezuela, Argentinien, und Brasilien. In Europa gibt es nichts, was mit dem Progressivismus der ersten Welle vergleichbar wäre. Dort gab es nie diese Art von politischem Regime mit dieser Art von Diskurs und Bestrebungen.  Aber hier in Südamerika haben wir das alles erlebt. Jede dieser Regierungen hatte ihre Eigenheiten. Sie haben gewisse Verbesserungen erreicht und Rückschläge erlitten, aber im Kern waren sie alle Entwicklungspolitiker*innen. Deshalb haben sich die territorialen Umweltprobleme und Konflikte mit den indigenen Gruppen ständig wiederholt.

Die aktuelle Vorstellung von Entwicklung führt auch zu verschiedenen Formen von Gewalt in Lateinamerika. 

Es gibt diese grundlegende Vorstellung von Entwicklung als ein Übergang von etwas „Rückständigem“ zu etwas „Fortschrittlichem“. Dabei wird impliziert, dass Fortschritt das Rezept gegen Armut ist, und wer sich diesem vermeintlichen Wohlstandsrezept widersetzt, wird ausgegrenzt. Die Zerstörung der Natur und der Tod von Menschen wird dadurch nicht nur toleriert, sondern auch legitimiert. Kolumbien und Brasilien beispielsweise führen die Weltrangliste der Ermordungen von Landrechts- und Umweltaktivisten an – und nichts passiert! Es gibt eine Resignation und Akzeptanz des Problems. Ich mag falsch liegen, aber meiner Meinung nach verschieben sich die Moralvorstellungen und die Grenzen zwischen dem Erträglichen und dem Unerträglichen, dem Gerechten und dem Ungerechten. Heute werden Ausmaße an Gewalt toleriert, die früher vollkommen inakzeptabel waren.

Welche Alternativen sehen Sie denn zum vorherrschenden Entwicklungsmodell, das u. a. auf Extraktivismus setzt? 

Diese Frage ist nicht schnell zu beantworten. Es gibt kein allgemeingültiges Rezept. Was die Alternativen zur Entwicklung gemeinsam haben: Sie basieren auf dem historischen, kulturellen und ökologischen Kontext der jeweiligen Region. Es sind Alternativen, bei denen der Wachstumsgedanke keine zentrale Rolle mehr spielt; sie sind weder wachstumsfreundlich noch -feindlich. Das unterscheidet sie klar von der europäischen Degrowth-Debatte, die sich für eine Verringerung des Wirtschaftswachstums ausspricht. In Südamerika gibt es bereits wirtschaftlich tragfähige Vorschläge für den Übergang zum Ausstieg aus dem Bergbau- und Erdölextraktivismus. Bspw. gibt es genaue Kriterien für die Anwendung von Moratorien [Anm. d. Red.: Aussetzung der Ausbeutung] auf neue Bergbau- oder Erdölvorkommen. Sie sind inspiriert von dem Ölmoratorium für die Region Yasuní in Ecuador. Nach einer jahrelangen Diskussion kam es zu einer Volksbefragung, in der sich eine große Mehrheit gegen die Ölförderung im Nationalpark aussprach. Stellen Sie sich eine Bürgerbefragung an einem Wahltag in Deutschland vor, zur Schließung der Kohlekraftwerke. So etwas Innovatives ist in Ecuador geschehen!

Auch wenn extraktivistische Projekte gestoppt werden können, ersetzt das jedoch nicht den Bedarf an Kapitalzuflüssen zur Finanzierung von bspw. Umweltsanierungen. Woher kommt das Geld für solche Maßnahmen?

In Ihrer Frage kommt der hartnäckige Mythos der Entwicklung zum Ausdruck. Wenn man sagt, dass der Extraktivismus eingeschränkt werden soll, lautet der Reflex: „Uns geht das Geld aus!“. Dabei gibt es zahlreiche Studien, die belegen, dass der tatsächliche Geldbeitrag – d. h. die staatlichen Einnahmen aus dem Extraktivismus – marginal ist. Darüber hinaus gibt es oftmals explizite oder versteckte Subventionen für den Bergbausektor. Der dramatischste Fall ist Bolivien, wo etwa 75 % der öffentlichen Investitionen in den Rohstoffsektor fließen.  Es besteht also das Paradoxon, dass das Geld der Gesellschaft und des Staates am Ende durch Beihilfen oder Steuerbefreiungen die Rohstoffindustrie finanziert. In Ländern wie Bolivien, Peru, Kolumbien oder Venezuela, führt die Abhängigkeit vom Rohstoffabbau zudem zu einer wirtschaftlichen Schwäche, zum Beispiel, in Form der Notwendigkeit, Lebensmittel zu importieren. Diese Länder sind reich genug, um ihre eigenen Nahrungsmittel zu produzieren, aber sie müssen Kohle und Öl exportieren, um Dollar oder Euro zu bekommen, damit sie die fehlenden Nahrungsmittel kaufen können.

Hinzu kommt, dass die sozialen, ökologischen und territorialen Auswirkungen des Extraktivismus wirtschaftliche Kosten verursachen, welche von der Gesellschaft getragen werden. Wenn zum Beispiel ein Ölteppich ausläuft oder ich aufgrund der Verschmutzung durch den Bergbau krank werde, muss ich für die Beseitigung des Ölteppichs bezahlen oder Geld für Medikamente beim Arzt ausgeben. Wenn also der Extraktivismus reduziert wird, wird dieses Geld gespart.

Das Haupthindernis für die Umstellung der Volkswirtschaften von der Rohstoffabhängigkeit auf nicht-extraktivistische Sektoren ist also nicht das Geld, denn die finanziellen Mittel wären vorhanden. Die Alternativen zur Entwicklung besagen, dass wir, anstatt Bergbau- und Ölgesellschaften zu subventionieren, dieses Geld verwenden werden, um beispielsweise unsere Nahrungsmittelversorgung zu sichern, und zwar so, dass sie gesünder, ökologischer und damit qualitativ besser ist.

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presente 2024-3: Gründer Wandel: Wie gerecht ist er?

La entrevista en español (Spanische Version)

«Un intento desesperado de prolongar los actuales estilos de vida»

Porträt von Joana Eink

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