Pflücker bei der Arbeit auf einer Orangenplange. (Foto: Sandra Dusch Silva/CIR)
Vor einem neuen Bus mit ausklappbaren Tischen und Bänken sitzen die Arbeiter*innen in der Mittagspause. Aus den Lautsprechern erklingt brasilianische Musik, Bossa Nova. Die Männer und Frauen tragen Schutzkleidung. Sie trinken filtriertes Wasser aus einem Wasserspender im Bus. Im Gespräch betonen sie, wie zufrieden sie sind hier zu arbeiten. Der Besuch auf der Organgenplantage war angekündigt, das Szenario wirkt gestellt.
Der idyllische Orangenhain steht im extremen Kontrast zu einer Plantagen-Razzia, die wir nur wenige Tage zuvor miterleben. Wir fahren auf eine Orangenplantage bei Avaré im Süden Brasiliens, rund 250 Kilometer von São Paulo entfernt. Wir begleiten die Inspektoren des Arbeitsministeriums – zusammen mit bewaffneten Polizisten. Seit 2004 ist das ein Muss. Damals wurden bei ähnlichen Kontrollen im Nachbarstaat Minas Gerais drei Inspekteure und ihr Fahrer durch Kopfschüsse getötet. Trotzdem bleibt die Arbeit für die Inspekteur*innen gefährlich. Insbesondere die lokalen Arbeitsvermittler, Líder genannt, tragen oft Waffen. Und spielen in den kleinen Gemeinden eine wichtige Rolle. Sie sind gut vernetzt, nicht nur mit dem lokalen Einzelhandel, sondern oft auch mit dem organisierten Verbrechen. Unsere Autokolonne fährt durch kilometerlange Baumreihen mitten auf das Gelände der Orangenplantage. Genau dorthin, wo die Arbeiter*innen gerade Orangen von den apfelbaumgroßen Bäumen pflücken. Es sind Orangen für die großen Fabriken im Land, für das Konzentrat, das in Europa zu Saft gemacht wird.
Auf der Orangenplantage sprechen wir mit kräftigen Männern, die meisten nicht älter als 25 Jahre. Sie arbeiten seit Wochen, haben bisher jedoch keinen Lohn gesehen. Sie wissen nicht einmal genau, wieviel sie für eine Kiste gepflückter Orangen bekommen werden – vermutlich nur 80 Cent und somit 50 Prozent weniger als der ortsansässige Arbeitsvermittler, der Líder, ihnen versprochen hat. „Wir wollen alle weg, aber dann müssen wir 120 Euro für die Reise zahlen und das Geld haben wir nicht“, klagt ein junger Mann dem Inspektor.
„Dir habe ich doch sogar Geld für deine Kinder geliehen.“
Die Ernte ist ein Knochenjob: Um auf knapp 10 Euro Tageslohn zu kommen, müssen die Arbeiter*innen etwa 1,5 Tonnen Orangen ernten. Während sie die wackligen Holzleitern mit den bis zu 30 Kilo schweren Säcken auf dem Rücken hoch und runter steigen, sind sie der Sonne schutzlos ausgesetzt. Den Pestiziden und den giftigen Schlangen ebenso. Eine Schutzkleidung fehlt meistens.
„Mit diesen Beweisen können wir Anklage erheben.“
Der Líder steht im Zentrum der Razzia: Mitte 20, Jeans, Poloshirt und Cowboystiefel. Mit seinem klapprigen Bus aus den 70er Jahren holt er zu Beginn der Erntesaison die Arbeiter aus dem Nordosten Brasiliens. Drei Tage und drei Nächte dauerte die 3000 Kilometer lange Fahrt. Nun steht der Bus auf der Orangenplantage: Ohne Zulassung, die Ausstiegstür mit Draht befestigt, die kaputten Fenster notdürftig abgedichtet mit Pappe. Trotz all der Verstöße gegen brasilianische Gesetze wirkt der junge Líder gelassen: „Ich mache nichts Schlimmes, sondern ich helfe den Arbeitern“. Er zeigt auf einen der umstehenden Männer: „Dir habe ich doch sogar Geld für deine Kinder geliehen“. „Ja“, antwortet dieser, den Blick gesenkt. Vor Wochen ließ er seine Frau mit den drei Kindern (6 Monate, 1,5 und 3 Jahre) zurück, um hier Geld zu verdienen. Er vertraute den Versprechen auf eine bessere Zukunft und ist nun in einem Kreislauf moderner Sklaverei gefangen. Wie hoch der Zins für den Kredit ist, weiß er nicht genau. Die Schulden steigen täglich: Nicht nur für den Transport, auch für die Barackenunterkunft und für das Essen. Da er noch keinen Lohn hat, muss er sich beim Líder versorgen und lässt täglich bei ihm anschreiben. Der Arbeitsinspektor geht die Schuldnerliste durch: Ein kleines Buch mit Zahlen. Zahlen, die Schicksale und Abhängigkeiten zementieren. Der Líder schlägt bei allen 50 Prozenten auf den Einkaufspreis drauf – mindestens. Ein Ei ist in seinem improvisierten Laden viermal teurer als im Supermarkt. Das Buch nimmt der Inspektor mit: „Hier wird niemand mehr diesen Wucher bezahlen!“
In einem kleinen Dorf, gut 20 Autominuten von der Orangenplantage entfernt, reihen sich die Häuser aneinander, in denen die Wanderarbeiter*innen wohnen. Während der Erntezeit verdoppelt sich die Einwohnerzahl des Dorfes. Die lokale Infrastruktur ist dem Ansturm nicht gewachsen. Die Räume haben keine Fenster. Auf den doppelstöckigen Stahlbetten liegen Schaumstoffmatratzen so dünn wie Wolldecken. Es stinkt nach Urin, Schweiß und Waschpulver. Die Luft ist stickig-feucht, die von Hand gewaschene Wäsche der Arbeiter*innen muss in den Schlafräumen trocken. Und: es ist viel zu eng. Im ersten Haus müssen sich 14 Arbeiter*innen auf 20 Quadratmeter die Schlafplätze teilen; im zweiten – eine ehemalige Bar mit offenem Dach und brüchigen Wänden – sind es noch viel mehr; im dritten – ein verzweigter Bau mit vielen kleinen Räumen – mag der Chefinspektor gar nicht zu Ende zählen. Dazu: überall Risse in den Wänden, aus löchrigen Decken schauen offene Kabel heraus. Für 40 Menschen gibt es nur eine Toilette und eine Dusche. „Es gibt noch mehr Baracken“, flüstert mir ein Arbeiter zu. Doch die Inspektoren haben genug gesehen. Die Beweise reichen für eine Anklage. „Es ist wie vor acht Jahren beim Zuckerrohr“, resümiert der Arbeitsinspektor sichtlich schockiert.
Ich bin für Ihre Fragen da:
Sandra Dusch Silva
Referentin für nachhaltige Lieferketten und Kleidung
dusch @ci-romero.de
Telefon: 030 - 41723800
Ich bin für Ihre Fragen da:
Dr. Andréa Moraes Barros
Projektkoordinatorin Multiakteurs-Partnerschaft Orangensaft, Brasilien
moraesbarros @ci-romero.de
Telefon: 0251 – 674413-23
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