9. März 2020 / Nachruf von Lutz Kliche
Als ich mich in der vergangenen Woche nach Managua, Nicaragua, aufmachte, konnte ich nicht ahnen, dass es eine Reise ans Sterbebett von Ernesto Cardenal, des größten zeitgenössischen Dichters Lateinamerikas werden würde,
Seit über vierzig Jahren kannte ich Cardenal, hatte sein Werk Anfang der 1980er Jahre als junger Lektor im Wuppertaler Peter Hammer Verlag betreut. Verleger Hermann Schulz hatte ihn Ende der 1960er Jahre durch eine in der Züricher „Tat“ veröffentlichte Nachdichtung eines biblischen Psalms entdeckt, ihn bald darauf in Nicaragua besucht und ab da sein dichterisches Werk konsequent herausgebracht und Cardenal nicht nur als Dichter, sondern auch als enger Freund begleitet. Denn Cardenal war eben nicht nur Dichter, sondern auch Priester und Revolutionär, ein kämpferischer Gottesmann in mystischer Tradition: Geboren 1925 in Granada, Nicaragua, erfuhr er nach einer Jugend als intellektueller Bohemien, der Liebes- und politische Protestgedichte schrieb, in Mexiko und New York studierte und ausgedehnte Reisen durch Europa unternahm, mit über dreißig Jahren eine „Konversion“ zu Gott und ging in das Trappistenkloster „Unsere liebe Frau vom Garten Gethsemane“ in Kentucky, USA. Er selbst drückte es einmal so aus: „Die Liebe zur Schönheit der Mädchen brachte mich zur Liebe zu Gott, der Quelle aller Schönheit.“ Und tatsächlich war Cardenals Beziehung zu Gott eine intime, erotische, ja, nahezu sexuelle Beziehung.
Im Kloster wurde Thomas Merton, ein Vertreter der Beat Generation, Freund von Jack Kerouac, Alan Ginsberg und Lawrence Ferlinghetti, Cardenals Novizenmeister. Mit Merton plante er bald die Gründung einer kontemplativen christlichen Kommune in Lateinamerika, einer Gemeinschaft, deren erste Regel es sein sollte, keine Regeln zu haben. Diese Gemeinschaft gründete er nach seiner Priesterweihe auf einer Insel im Archipel von Solentiname im Großen See von Nicaragua, lebte dort ab Anfang der 1960er Jahre mit den Bauern und Fischern und leitete sie zu künstlerischem Tun an – es wurden Gedichte geschrieben und es entstanden Bilder naiver Malerei von atemberaubender Schönheit, die die tropische Umwelt wie ein irdisches Paradies erscheinen lassen. In Solentiname entstand auch das „Evangelium der Bauern von Solentiname“, Gespräche Cardenals mit den Inselbewohnern, die deutlich machen, wie Cardenal selbst und die Mitglieder seiner Gemeinschaft sich immer mehr einem revolutionären Christentum zuwandten, das bald konsequent in den Kampf gegen das Regime des Diktators Somoza mündete.
1977 fielen einige der jungen Leute aus Cardenals Gemeinschaft im Kampf gegen Somozas Nationalgarde, die kleine Siedlung der Gemeinschaft wurde dem Erdboden gleichgemacht, Cardenal ging ins Exil.
Als Kulturminister der sandinistischen Regierung kehrte er 1979 nach Nicaragua zurück, ein Amt, das er bis 1988 ausübte und in dem er sich bemühte, seine Vorstellung von einer wahrhaften Volkskunst, einer „Kultur für alle“, wie er sie in Solentiname im Kleinen praktiziert hatte, im großen Maßstab umzusetzen – überall im Land entstanden nun Volkskulturzentren und Dichterwerkstätten. Mit dem österreichischen Schauspieler Dietmar Schönherr gründete er in der Stadt Granada am Großen See von Nicaragua das Kulturzentrum „Casa de los Tres Mundos“, das Haus der 3 Welten. 1980 ehrte ihn der Börsenverein mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
In jenen Jahren war es auch, dass mich Cardenal zu sich nach Managua rief, um ihm beim Aufbau eines Verlagswesens in Nicaragua zu helfen, wo es bisher nur Druckereien gegeben hatte. Ich folgte diesem Ruf begeistert und kann sagen, dass die Arbeit an Cardenals Seite, die zahllosen gemeinsamen Reisen in Lateinamerika und natürlich in Deutschland, zu den eindrücklichsten Erfahrungen meines Lebens gehören.
Nach dem Ende der Revolution konnte sich Cardenal endlich wieder ganz seinem dichterischen Werk zuwenden, es entstand das Opus Magnum „Cánticos Cósmicos – Kosmische Gesänge“, ein Monumentalwerk von mehr als 500 Seiten, das eine Synthese von Poesie und Astrophysik versucht und in der Tradition des Dante die Liebe zum Bewegungsprinzip des Universums erklärt.
Als sich Daniel Ortega, einer der ehemaligen Revolutionsführer, zum neuen Diktator Nicaraguas aufschwang, war es Cardenal, der als erster klar und kompromisslos Kritik übte, nichts anderem verpflichtet als seinem Gewissen und mit befreiender Radikalität.
Über die Liebe und das Universum schrieb er bis an sein Lebensende – noch vor wenigen Wochen hatte er mir ein langes Gedicht geschickt: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Mystik pur.
Im Januar war Cardenal 95 Jahre alt geworden. Ein langes schöpferisches Leben. Als wir am vergangenen Sonntag an seinem Sterbebett standen, war uns allen klar: Seine Botschaft von Liebe und Befreiung wird ihn über seinen Tod hinaus lebendig erhalten.
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