Juni 2021
Sabine, du warst in den 90er Jahren, als du als Länderreferentin für Nicaragua bei der CIR gearbeitet hast, maßgeblich an der Veränderung der CIR von einer reinen Mittelamerika-Solidaritätsgruppe zu einer Kampagnenorganisation beteiligt. Wie kam es dazu?
Als die CIR vor 40 Jahren gegründet wurde, herrschten in Guatemala und El Salvador Bürgerkriege. Mit dem Ende dieser Bürgerkriege Anfang der 90er Jahre erlosch auch das Interesse in Deutschland an den Ländern Zentralamerikas.
In El Salvador, Honduras und Nicaragua siedelten sich in dieser Zeit die ersten Weltmarktfabriken für Bekleidung, die sogenannten Maquilas, an. Arbeitskraftintensive Produktionsschritte wurden vom globalen Norden in den globalen Süden verlagert. Im Münsterland wurde zeitgleich die Textindustrie geschlossen. Nun standen in Mittelamerika und Südostasien billige Arbeitskräfte, meist Frauen, zur Verfügung, die unter Missachtung internationaler Arbeitsrechte ausgebeutet wurden: Uns erreichten Nachrichten über schwangere Arbeiterinnen, die in den Fabriken starben, weil ihnen versagt worden war, einen Arzt aufzusuchen.
Vor allem Frauenorganisationen – in Nicaragua Sandra Ramos vom MEC und in El Salvador Marina Rios von M.A.M. – suchten deshalb den Kontakt zur CIR. Wir überlegten zusammen, wie ihr Kampf um die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Maquila-Arbeiter*innen und unser Engagement für ein „gerechteres“ Nord-Süd-Verhältnis zusammenzubringen seien. Es war klar, dass wir im globalen Norden Verantwortung für die Ausbeutung der Menschen im globalen Süden übernehmen müssen. Unser Reichtum basiert auf der jahrhundertelangen Kolonialisierung des Südens.
Aus diesen Überlegungen entstand 1989 in Europa die internationale „Clean Clothes Campaign“ (CCC). 1995 wurde die CIR Mitgründerin der deutschen „Kampagne für Saubere Kleidung“ und ist heute noch aktiv dabei. Was soll die CCC bewirken?
Mit der Kampagnenarbeit, zum Beispiel in der CCC, verbindet die CIR die Unterstützung der konkreten Arbeit vor Ort für gerechtere Löhne und Arbeitsrechte mit der Forderung nach einem Politikwechsel in unserem Land. In der Kampagnenarbeit – unterstützt von kritischen Konsument*innen hier in Deutschland – machen wir Druck auf die Unternehmen, in ihren Lieferketten internationale Arbeitsrechte einzuhalten. Geschieht dies nicht, ziehen wir sie dafür zur Verantwortung. Aber von Beginn an war unser Ziel nicht freiwillige Maßnahmen der Unternehmen, sondern eine Veränderung der politischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen. Die CIR arbeitet deshalb auch aktiv in Kampagnen wie der Initiative Lieferkettengesetz.
Welche Kampagne ist dir aus deiner hauptamtlichen Zeit außerdem noch in Erinnerung geblieben?
Das ist die Kampagne zur Unterstützung arbeitender Kinder. 1997 habe ich sie unter anderem mit drei wunderbaren Menschen, Albert Recknagel von terre des hommes, dem Sozialwissenschaftler und emeritierten Hochschullehrer der TU Berlin, Manfred Liebel, und Thomas Krämer, Geschäftsführer der CIR, gegründet.
Daraus ist der Verein PRONATS hervorgegangen. Die CIR hat damals mit dem Slogan „Ja zur Kinderarbeit, nein zur Ausbeutung“ irritiert, vielleicht auch provoziert. Arbeitende Kinder in unseren Projektländern, die mehrheitlich im informellen Sektor – etwa als Schuhputzer*innen oder Straßenverkäufer*innen – tätig sind, wollen nicht infolge von Kampagnen gegen Kinderarbeit kriminalisiert werden. Sie wollen vielmehr vor Ausbeutung geschützt, besser bezahlt und als arbeitende Kinder, die Verantwortung für die Familie übernehmen, anerkannt werden. Diese Kampagne ist mir sehr ans Herz gewachsen, weil sie verdeutlicht, wie komplex Solidaritätsarbeit ist. Wir müssen Verantwortung übernehmen, sollten aber nicht über die Köpfe der Menschen im globalen Süden hinweg Kampagnenziele formulieren.
Sabine Broscheit war und ist der CIR in vielfältiger Weise verbunden: Sie war von 1994 bis 2003 CIR-Länderreferentin, hat von 2003 bis 2006 in Nicaragua in unserer Partnerorganisation María Elena Cuadra (MEC) gearbeitet und ist aktuell im Vorstand.
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